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Tai Chi Chuan und Qi Gong Schule
Hong Li Yuan
Stuttgart

für Gesundheit, Harmonie, Kraft und Lebensfreude


Hong Li Yuan

 

Das Schwert


Nicht nur Menschen haben ihre eigene Geschichte, sondern manchmal sogar Dinge.


Hier ist die Geschichte eines Schwertes:

 

Zu Beginn dieses Jahrhunderts gab es in Süd-Ost-China ein kleines, ruhiges Dorf, das kaum jemand kannte. Es hatte nur ein paar hundert Einwohner. Eines Tages kamen zwei Fremde, ein alter Mann und ein Junge. Sie ließen sich außerhalb des Dorfes nieder und bauten dort eine einfache Hütte aus Schilf und einen Schmiedeofen.
Dann begannen sie mit ihrer Arbeit. Der Junge hatte die Aufgabe, das Feuer stetig zu schüren, der Alte brachte darin ein Stück Metall zum Glühen und bearbeitete es ding-ding-dang, ding-ding-dang, mit dem Hammer. Einige Zeit später hatte das Metall die Form eines Schwertes angenommen. Als er es fertig geschmiedet hatte, legte der alte Mann das Schwert ins Wasser. Dann nahm er das nächste Stück Metall und begann ding-ding-dang, ding-ding-dang, von neuem mit seiner Arbeit. Das Geräusch, das beim Schmieden entstand, klang laut durch das ganze Dorf. Alle Einwohner konnten es hören.
Schon einige Tage später hatten die Leute ihre Geduld verloren. " Das geht nicht so weiter. Wenn die Fremden den ganzen Tag ding-ding-dang, ding-ding-dang machen, haben wir hier gar keine Ruhe mehr." So beschwerten sich einige bei der Dorfversammlung.
"Gehen wir zusammen dort hin", schlug eine dicke alte Dame vor, die im Dorf einigen Einfluß hatte," und verjagen sie einfach." Also liefen alle zur Hütte der Fremden.
Dort hing ein Plakat an der Tür. Darauf stand geschrieben:

Wenn wir täglich nur ein Schwert verkaufen können, müssen wir verhungern.
Wenn wir zwei verkaufen können, reicht das Geld gerade fürs Essen.
Der Erlös von dreien ist genug, um warme Kleidung für den Winter zu besorgen.
Bei mehr als vier verkauften Schwertern bleibt genug Geld übrig, um noch etwas zu sparen."

Die Dorfbewohner standen stumm vor der Tür, nachdem sie das Schild gelesen hatten. Einer nach dem anderen ging langsam nach Hause. Als Nachkommen von Konfuzius wußten natürlich alle, daß jeder Mensch das Recht hat, zu leben. Manche dachten wohl im stillen: " Sie müssen sowieso bald wieder gehen. Wir sind nur ein kleines Dorf, wie sollen sie hier überleben. Niemand wird ihre Schwerter kaufen. Dann haben wir bald wieder unsere Ruhe."

Einige Jahre später waren die beiden immer noch da und schmiedeten ihre Schwerter mit ding-ding-dang, ding-ding-dang. Im Dorf hatte schon seit langer Zeit jede Familie ein Schwert von den Fremden, doch die beiden konnten ihre Ware weiter verkaufen, denn die Kunden kamen von Nah und Fern. Manchmal konnte man den Alten sehen, wie er mit einem Schwert in der Hand vor der Tür stand und den Vorübergehenden zurief: " He, Leute, das hier sind keine normalen Schwerter! Nehmt bitte eins mit!"
Und tatsächlich waren die Schwerter so scharf, daß man damit zehn Bronzemünzen auf einmal zerteilen konnte, ohne daß auf der Klinge eine Spur zu sehen war. Auch wurden sie niemals rostig oder stumpf. Wenn man so ein Schwert an der Wand hängen hatte, spürte man im ganzen Raum eine besondere Energie von ihm ausgehen, die Mut verlieh.

Langsam und unbemerkt hatte das Leben im Dorf sich verändert. Statt der früheren Totenstille herrschte nun ein buntes Treiben. Morgens und abends wurden auf dem Marktplatz Schwertübungen gemacht. Ein reicher Mann hatte sogar ein Hotel eröffnet, um die vielen Besucher und Kunden unterzubringen. Die Menschen waren gesünder als früher und lebten nicht mehr so isoliert. Das ding-ding-dang, ding-ding-dang war für alle zu einem vertrauten Geräusch geworden. " Das ist die schönste Musik für mich", sagte die dicke alte Dame zu den anderen. " Wenn ich morgens das ding-ding-dang höre, stehe ich auf. Wenn das ding-ding-dang abends aufgehört hat, gehe ich zu Bett." " Genau wie wir!" entgegneten die anderen.

Eines Tages warteten die Dorfbewohner vergeblich auf das ding-ding-dang. Den ganzen Tag konnte man nichts hören, und auch nicht am nächsten Tag. Da gingen die Leute zur Hütte der Fremden, um nach dem rechten zu schauen. Sie fanden den Alten krank in seinem Bett vor. Unter den Besuchern war auch ein Kunde, der von weit her gekommen war, um ein Schwert bei ihm zu bestellen. " Ich mache Ihr Schwert heute noch fertig, Sie können es morgen abholen," sagte der Alte mit schwacher Stimme zu ihm. Den Rest des Tages konnte man im Dorf wieder das gewohnte ding-ding-dang, ding-ding-dang hören.
Doch das war das letzte Mal. Am nächsten Morgen klopfte es an die Tür des Mannes, der das Schwert bestellt hatte. Der Junge stand vor der Tür. Er hatte das Schwert bei sich und auch das Geld, das der Kunde schon im voraus bezahlt hatte. " Mein Meister läßt Ihnen sagen, für sein letztes Schwert nimmt er kein Geld." Mit Tränen in den Augen drehte er sich um und ging fort.
Die Dorfbewohner beerdigten den Alten unter großen Ehren. Nun erst wurde ihnen klar, was sie verloren hatten. Auch merkten sie erst jetzt, wie wenig sie über die beiden Fremden gewußt hatten. Der Junge hatte das Dorf verlassen und niemandem gesagt, wohin er gehen wollte. So gab es keinen Menschen mehr, der etwas über die beiden hätte erzählen können. Aber die Schwerter blieben im Besitz der Familien, und ihr Wert stieg.....

Das letzte Schwert des Alten  hängt jetzt hier. Es hat schon mehrmals den Besitzer gewechselt, und das rote Band wurde wohl ein paarmal erneuert.
Jedesmal, wenn ich das Schwert in der Hand halte, spüre ich sehr viel von ihm, aber was das genau ist, kann ich schwer beschreiben.
Das Bild des alten, mageren Mannes mit langen, weißen Haaren  kommt mir immer wieder vor Augen, ohne daß ich ihn jemals selbst gesehen hätte. Ich sehe ihn, wie er am Straßenrand steht und eins seiner Schwerter vor dem Herzen hält mit den Worten: " He, Leute, das hier ist kein normales Schwert. Nehmt es bitte mit!"

Einmal zeigte ich mein Schwert einem Spezialisten. Er sagte staunend: " Das ist ein wunderschönes Schwert, es könnte das Beste sein. Aber leider fehlen einige Hammerschläge daran. Wenn Sie wollen, kann ich das für Sie machen."
" Nein, nein," erwiderte ich. " Es soll lieber so bleiben, wie es immer war."

Und du, was meinst du dazu?

Stuttgart, im Januar 1999

Hong Li Yuan